Thomas Lucker – All That Fall

Thomas Lucker – All That Fall

Nani Habermalz 2013

Fallen sie oder schweben sie? Menschen im freien Fall erwecken heutzutage automatisch die Assoziation von 9/11. Noch dazu im Kontext von hohen Gebäuden. Ein Relief zeigt, umrissartig, Menschen in der Luft, Fallende oder Springende. Daneben Gerippe von Hochhäusern. Doch wieviel von dem, was wir sehen, existiert wirklich? Was ist Bild, was ist Abbild, was ist Konstruktion unseres Gehirns? Aus wie vielen Schichten besteht die Wirklichkeit? Mit diesen Fragen konfrontiert uns der Bildhauer Thomas Lucker. Die Gebäude auf einigen Reliefs sind Fotos vom Palast der Republik, aufgenommen in verschiedenen Phasen des Abrisses. Momentaufnahme der Vergangenheit zum Zeitpunkt einer ungewissen Zukunft. Unser Gedächtnis besteht aus den Bildern, die unser  Gehirn zulässt. Doch es könnte auch ganz anders sein, alles ist im Fluss, im freien Fall. All that fall.

Thomas Lucker gibt sich nicht mit einzelnen Ebenen der Wirklichkeit zufrieden. Er verschränkt Dauerhaftes und Vergängliches, hält „in Stein  gemeißelt“ fest, was nur für den Augenblick bestimmt war. Er verbindet dafür Stein und Fotografie. Seine belichteten Kalksteinreliefs sind immer Einblicke. In einen Moment des Lebens, der jeden Augenblick kippen kann. Hat es unsere Vergangenheit wirklich gegeben, welche Abbilder unseres Lebens und Erlebens tragen wir in uns herum? Welche Momente trägt uns unser Gedächtnis immer wieder vor, welche unterschlägt es, und welche Vergangenheiten und möglichen Zukünfte trägt jeder Augenblick in sich?

Menschen in Afrika. Auf Schiffen. Weltall. Gesichter. Die Ausstellung zeigt ein Kabinett aus versteinerten Schnappschüssen, freigelegte Schichten von Erinnerung, frei von Kontext, wie das Gehirn eines Alzheimerkranken. Gerade dadurch erlangt es eine beeindruckende Tiefenschärfe. „Steinarchiv“ nennt Lucker selbst seine Objekte. Er arbeitet mit Kalksteinplatten, die selbst einst durch Sedimentation und Metamorphose entstanden sind, Zeugnisse des Lebendigen vor vielen Millionen Jahren. Die fotografische Schicht ist da wie die letzte, vergängliche, dünne Auflage des menschlichen Daseins im Kosmos. So spiegelt der künstlerische Prozess, in dem Steinarbeit, Belichtung, Farb- und Materialauflagen jeweils Sedimente erzeugen, die Art und Weise wider, wie unser Gedächtnis Erinnerungen abspeichert, überschreibt und modifiziert. „Sedimentation“ hieß daher auch eine frühere Ausstellung des Künstlers. „Erinnerung ist der Klebstoff, der das eigene biographische Leben zusammenhält“, sagt der Neurologe und Gedächtnisforscher Eric Kandell. Lucker würde ergänzen: Nur eine Version des eigenen Lebens.  Eine von vielen.