Thomas Luckers „Steingedächtnis“

Thomas Luckers „Steingedächtnis“

Fotografische Erinnerungen …  im Relief eingeschrieben

Dr. Joanna Barck 2010

Kleinformatig – die größten messen ca. 40 cm in der Höhe und 50 cm in der Breite – sind die Bilder, die Thomas Lucker in rhythmischen Abständen an die weißen Wände seines Ateliers und der Ausstellungsräume hängt. Die Reihenfolge ihrer Hängung ist, wenn auch variabel, so doch nicht willkürlich. Der Eindruck, den man dabei gewinnt, erinnert einerseits an serielle Bilderreihungen beispielsweise aus der Pop Art und andererseits an die Überfülle jener Kabinette oder Kunstkammern des 18. und 19. Jahrhunderts, die eng mit Gegenständen und Kunstobjekten gefüllt und gehängt waren.

Luckers Bilder sind im besten Sinne echte Kabinettstücke. Sie wollen genauer betrachtet werden, denn hinter ihren sich vorwölbenden Oberflächen verbergen sie eine Besonderheit, die – das kann man schon an dieser Stelle andeuten – fotografischer Natur ist. Die feinkörnig pigmentierten, teils aufgerauten, teils glatt oder grob bearbeiteten Oberflächen regen an, näher heranzutreten, und spätestens jetzt stellt man etwas verblüfft oder irritiert fest, dass es sich hierbei um oberflächenstrukturierte und farbige Reliefs handelt. Dass Reliefs farbig und zwar bereits in ihrer Struktur mit Farbpigmenten angereichen sein können – das heißt nicht erst im Nachhinein in Farbe gefasst-, ist für einen abendländischen Kunstbetrachter, der spätestens seit der Romantik an marmorweiße Skulpturen und unverputzte Baukörper gewohnt ist, eine überraschende Beobachtung. Historisch betrachtet gehört die Farbgebung zur Reliefgestaltung gleichermaßen dazu wie die farbig gefasste Skulpturen zu der griechischen Antike oder die farbigen Kirchenfassaden zum Mittelalter.  Aber die Farbe am Relief ist ein interessanter und durchaus folgenreicher Umstand, denn sie bringt das Relief in eine kippelige, gleichwohl eine besonders spannungsgeladene Position zwischen Malerei auf der einen und Skulptur auf der anderen Seite. Dass Farbe dimensionierende Wirkung erzeugt – Rot scheint hervorzutreten, während Blau sich scheinbar zurückzieht – wird in der Bildrezeption häufig nicht berücksichtigt, stattdessen spricht man der Farbe eine malerische Wirkung zu, was meistens bedeutet, dass sie die abgebildeten Gegenstände in die Flächigkeit bannt. Im Falle der Reliefarbeiten von Thomas Lucker erfüllt die Farbe in der Tat eine doppelte Funktion, indem sie zum einen die plastische Reliefwirkung unterstützt, zum anderen aber das Relief an die Malerei, das heißt an das zweidimensionale Bild bindet. Aus dieser paradoxen Situation heraus entwickelt sich ein äußerst interessanter Effekt, denn nun scheint das Bild selbst dem Betrachter entgegenzukommen, scheint sich die Membran der Oberfläche, die es in der Zweidimensionalität festhielt, auszudehnen ohne sie jedoch zu durchbrechen. Es ist eine Verlebendigung des Bildes mit skulpturalen Mitteln. Und dass es bei Luckers Arbeiten trotz – oder gerade wegen – des Reliefs um plane Bilder geht, wird deutlich, wenn man sich ihre Entstehung genauer ansieht.

Dass Thomas Lucker ein gelernter und praktizierender Steinbildhauer und Restaurator ist, soll nicht unerwähnt bleiben, überinterpretieren möchte ich diese Tatsache in Bezug auf seine Reliefarbeiten jedoch nicht. Luckers Interesse scheint mir – zumindest in diesem Fall- nicht in der Arbeit am Material zu liegen, als vielmehr in der Frage nach den Bezügen zwischen Memoria und Bild (bzw. künstlerischer Arbeit). Diese Frage kann man sicherlich, ohne zu übertreiben, als die zentrale im Kontext der gewichtigen kunsthistorischen und philosophischen Fragestellungen nach dem „Was ist ein Bild?“ und „Warum schafft ein Mensch Kunstwerke?“ bezeichnen. lch habe im Zusammenhang mit den Kabinettstücken bereits angedeutet, dass die Herstellung dieser Reliefs eine Besonderheit in sich birgt, denn sie sind Übertragungen einzelner Fotografien auf den Kalkstein, aus dem die Reliefs sind. Die Übertragung erfolgt über Umrisszeichnungen, über Transferfolien oder durch direkte Belichtung des Steins. Das letztgenannte Verfahren entwickelte Thomas Lucker eigens für diese Arbeiten, womit er auch die Farbgebung (oder Grauschattierungen) der Fotos übertragen kann. Der Modus ist in mehrfacher Hinsicht spannend: Er ist nicht vollständig kalkulierbar und er knüpft an das fotografische Belichtungsverfahren selbst, an das „Schreiben mit Licht“, an. Die sich daran anschließende Bearbeitung der „Kalkstein-Fotos“ mit Knüpfel, Eisen und Raspel, mit Acrylfarben, Sandstein oder Gips, mit Zeitungsausschnitten oder Tintendrucken gehört wesentlich zum Entstehungsprozess der Werke dazu. Gewissermaßen als Fundament fungiert also eine bestimmte Fotografie, die aus dem Stein herausgearbeitet und anschließend überformt wird. In diesem künstlerischen Prozess wird das Relief selbst zu einer Erinnerung an die (Erinnerungs-) Fotografie.

Doch erinnert man sich hier an die Fotografie oder an das Fotografierte? Diese Frage, so scheint es mir, treibt den Künstler vor allen anderen an. Und zu diesen ,,Anderen“ gehört sicherlich die Frage nach der Memoriafunktion der Kunst im Allgemeinen und der Fotografie im Besonderen. Spätestens seit den berühmt gewordenen, teils sehr persönlichen Erörterungen von Roland Barthes zur Fotografie (in Die helle Kammer, de. 1989) ist diese nicht ohne die Konzepte des „punctum“ und des „studium“, ohne ihre Erinnerungsfunktion und -wirkung mehr zu denken. Barthes beschreibt darin das Spezifikum der (analogen) Fotografie als ein „Es-ist-so-gewesen“ und die Fotografie (oder das darin Abgelichtete) selbst als das „UNVERÄNDERLICHE“. Indem er für die Fotografie die Verschränkung aus Referentialität und Vergangenheit betont, zeigt für ihn die Aufnahme einen abgetrennten, da in der Vergangenheit liegenden Zeitabschnitt, den er daher als „unveränderlich“ bezeichnet. Die haptische Fotografie macht dabei allerdings einen Spagat, da sie mit dem einen Bein in der Vergangenheit, die sie abbildet, mit dem anderen Bein aber in der Gegenwart steht, wenn wir das Foto bei der Betrachtung in der Hand halten.

Das was bei Barthes so einleuchtend erscheint, gilt es vor dem Hintergrund der Arbeiten von Thomas Lucker zu hinterfragen. Gibt es diesen nüchternen Moment der Realität („Es-ist-so“), den das Foto laut Barthes einfängt, für uns überhaupt? Die fotochemischen Prozesse, die eine analoge Fotografie bedingen, gehören in eine Kategorie der Realität, die nicht viel mit unserer, durch subjektive Zeitwahrnehmung bedingten, diskontinuierlich und prozessual zusammengesetzten Realität gemein hat. Was mit Hilfe der Fotochemie auf das Fotopapier gebannt wurde, hat soviel mit unserer Realität zu tun, wie die Ölfarbe mit der Mona Lisa – beide haben ihre jeweilige Realität, doch sie fällt weder mit der Realität des Dargestellten noch mit der des Betrachters in eins. Betrachten wir bspw. das Foto einer uns bekannten (abwesenden oder verstorbenen) Person, so ist der Moment, der im Bild auf Dauer gestellt zu sein scheint, in seiner Wirkung auf uns jedes Mal ein anderer. So häufig wir dieses Bild betrachten, analysieren, reflektieren, so häufig entscheiden wir über das, was die Realität der Darstellung ist (nicht was möglicherweise war). Ob es einen dieser fotografischen Momente tatsächlich jemals in der Vergangenheit, gewissermaßen „vor dem Foto“ gegeben hat, scheint mir angesichts des Gegenstandes eine falsch gestellte Frage zu sein. Denn ist das Foto ein Dokument dieses Moments? Ich meine, nein. Es ist ein Teil eines Erinnerungsprozesses und die Arbeiten Thomas Luckers scheinen diese bildlichen Erinnerungsprozesse zu reflektieren.

Sie bilden sie ab, indem sie die Fotografie an den Anfang setzen: Es ist das Foto, das zu allererst in die Hand genommen, ausgewählt und schließlich im Übertragungsverfahren auf den weißen Kalkstein projiziert wird. Dort ,brennt‘ es sich ein, so wie es die Erinnerungsbilder auf der weißen Wand unseres Gedächtnisses tun. Das Foto dient zur Subjektivierung des Erinnerungsprozesses, es dient dazu, die Imagination in Gang zu setzten, womit eine Flut weiterer (Erinnerungs-) Bilder entsteht. Überarbeitungen, Überlappungen, Auskratzungen – das ist die Übersetzung des Erinnerungsprozesses mit künstlerischen Mitteln. Am Ende sind die Reliefs zu fotografischen Spolien aus Erinnerung und Kunst geworden.

Was Thomas Lucker an den Anfang stellt, ist also eine Rückholung oder Rückübersetzung der (Erinnerungs-) Fotografie in den Bereich der freien Künste. Er befreit sie von der Last des ewig „Es-ist-so-gewesen“, indem er sie in das Reich der freien Imagination entlässt. Das, was im Foto „Erinnerung“ und .Authentizität“ war, ist nun zur Kunst und zur Ausdrucksfläche geworden. So wird auch die „Erinnerung“ abgekoppelt vom Realen und transferiert in einen Ort der imaginären und ihrerseits wieder imaginativen Bilder. Im künstlerischen Prozess aktualisiert sich das erinnerte Vergangene, das sich einen Platz im Jetzt der Rezeption erobert. Die Reliefs werden zu „petits memoires“, zu „kleinen Gedenken“, und ihre Materialität macht sie selbst für den Eingriff der Zeit, für die Veränderung, offen. Familienfotos, Natureindrücke, ausgeschnittene Zeitungsfotos – sie alle werden in einem „Relief-Gedächtnis“ subsumiert. Der Künstler nennt es angesichts des Kalkgesteins, das vor Millionen von Jahren aus Meeressedimenten entstanden ist und selbst seine eigene Geschichte trägt, „das Steingedächtnis“.

Mit diesem Steingedächtnis befreit Lucker nicht nur die Fotografie aus der Umklammerung einer vermeintlich objektiven Realität, sondern schafft vor allem besondere Erinnerungsräume, die ich mit einem von Sigrid Weigel geliehenen Begriff und Gedankengang umschreiben mochte: All die Subjekte und Objekte unserer Erinnerung kehren wieder in dem Prozess der „Ein-bild-ung“, denn Erinnerung und Erinnertes sind immer schon bildlich kodiert – wir erinnern uns bereits in imaginären Bildern, die in unserem Gedächtnis Erinnerungsräume bilden. Luckers Reliefarbeiten sind meiner Ansicht nach Bildwerdungen jener inneren Erinnerungsräume und Darstellungen unserer Erinnerungsprozesse zugleich.